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Erstanlage/prima edizione: 15.08.2003, Stand/ultimo aggiornamento: 01.01.2018
Einführung:
Projekt und Epoche
| 1. Das Projekt |
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| 2. Das italienische Risorgimento 1796-1915 (W. Daum) |
| 2.1 Diplomatie und Nationalstaatsgründung 1815-1861 |
| 2.2 Kompromisse und Defizite bei der inneren Staatsgründung 1861-1876 |
| – Liberale Führungselite und Nationalstaatsgegner – |
| – Die savoyische Dynastie auf italienischem Thron – |
| – Die Armee zwischen äußeren Niederlagen und innerer Effizienz – |
| – Die zentralistische Lösung für den Mezzogiorno – |
| – Staatliche Bildungspolitik zwischen nationaler Spracheinheit und regionalem Kulturgefälle – |
| – Soziale Bruchstellen im nationalen Einigungswerk – |
| – Großmachtpolitik und soziale Integration – |
| 2.3 Kritische Traditionsbildung: Der Meridionalismus |
| 2.4 Anmerkungen |
1. | Das Projekt | |
Das Risorgimento-Portal versteht sich als wissenschaftlich-publizistische Plattform der deutsch-italienischen Forschung zur Epoche der italienischen Nationalstaats- und Nationsbildung, die als nationale „Wiedergeburt“ – also „Risorgimento“ – Italiens vom Beginn der napoleonischen Herrschaft über die Halbinsel (1796) bis zum Eintritt des Landes in den Ersten Weltkrieg (1915) reicht. Wie in den nachfolgenden Ausführungen dargestellt, ist der Epochenbegriff selbst seit geraumer Zeit zum Gegenstand kontroverser geschichtswissenschaftlicher Debatten erhoben worden. In diesem Projekt wird an dem Begriff des Risorgimento insofern festgehalten, als dass er immer noch als eine unverzichtbare Kategorie zum Verständnis der Art und Weise, in welcher der historische Prozess der italienischen Nationalstaats- und Nationsbildung vollzogen, erfahren und gedeutet wurde, betrachtet wird. Als geschichtswissenschaftliche Kategorie zum Verständnis der Epoche 1796-1915 ist „Risorgimento“ nicht zu verwechseln mit Mythos und Ideologie gleichen Namens, welche die Einiger Italiens als ethisch-politischen Kodex konstruierten und die Träger des neuen Nationalstaats zu ihrer Legitimierung aufrechterhielten.
Das Risorgimento-Portal bemüht sich um die Herstellung eines Austausches zwischen den Institutionen und Initiativen, die in beiden Ländern für die Erforschung der Epoche des italienischen Risorgimento relevant sind. Dabei gilt es sowohl bestehende Initiativen zu berücksichtigen als auch neue Perspektiven der Forschung aufzuzeigen.
Hinweise auf wissenschaftliche Veranstaltungen und Tagungen (Startseite) wie auch regelmäßige Besprechungen von Tagungen und Literatur sowie Forschungsberichte sollen über neue Forschungsrichtungen und -debatten informieren. Als weiterer Service werden Bibliographien zu thematischen Aspekten der Risorgimento-Forschung und nützliche Links zu entsprechenden deutschen und italienischen Internet-Präsentationen angeboten, die für die Risorgimento-Forschung Relevanz haben. Der Bereich der Quellen bietet mittels Repertorien eine Dokumentation der Publizistik, die in der Verfassungsrevolution Neapel Siziliens 1820/21 erschien. Ein Newsletter informiert regelmäßig über Aktualisierungen des Angebotes.
Ziel des Projektes ist es, die Spezialisten und Institutionen der Risorgimento-Forschung in Italien und Deutschland über die Initiativen der Disziplin im jeweils anderen Land zu informieren. Zugleich möchte das Projekt aber auch Interesse bei Vertretern anderer Disziplinen wecken und diese an die Geschichte des italienischen Risorgimento, wie sie in verschiedenen Institutionen und Ansätzen in Italien und Deutschland betrieben wird, heranführen. Nicht zuletzt möchte das Portal interessierten Autoren eine schnelle Gelegenheit und dennoch auch einen zuverlässigen, einschlägig ausgewiesenen Rahmen für die Publikation ihrer Forschungsbeiträge, Studien und Aufsätze anbieten. Die im Projekt eingestellten Texte unterliegen den üblichen urheberrechtlichen Garantien, die im Impressum erläutert werden.
Das Risorgimento-Projekt lebt als Plattform für wissenschaftlichen Austausch wesentlich von den Beiträgen der interessierten Gemeinschaft. Daher sind alle Studierenden, Graduierten, Wissenschaftler und Forscher, die sich mit der Geschichte des Risorgimento beschäftigen oder sich für sie interessieren, zur Mitwirkung aufgerufen. Auch Call-for-Papers, Veranstaltungs- und Ausstellungsankündigungen, Tagungsberichte, Rezensionen, Aufsätze zu ausgewählten Themen des Risorgimento sowie Ergänzungsvorschläge zu den Bibliographien und Links sind herzlich willkommen. Hierfür bietet sich die direkte Kontaktaufnahme mit der Redaktion an, die Sie über den linken Navigationsschalter Impressum herstellen können.
2. | Das italienische Risorgimento 1796-1915. | |
| Eine Einführung von Werner Daum | |
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Eine besondere Lesart des nationalen Befreiungskampfes Italiens im 19. Jahrhundert („Risorgimento“) wurde vor einigen Jahren zur Verblüffung der Historikerzunft aus sezessionistischen oberitalienischen Kreisen in der italienischen Tagespresse kolportiert. Demnach handele es sich beim Risorgimento um ...
„Große Heldentaten, die sofort verraten und von Beginn an der Machtlogik geopfert wurden. [...] Somit können wir heute Italien mit dem ehemaligen Österreich, Rom mit Wien gleichsetzen. Daher ist also der Moment gekommen, jegliche Bindung an die römische Zentralgewalt abzuschneiden.“1
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Mit dieser Berufung auf ein ‚verratenes Risorgimento‘ hoffte Umberto Bossi im September 1996, die wohl spektakulärste und zugleich umstrittenste Initiative der von ihm gegründeten „Lega Lombarda“ zu legitimieren: Die Proklamation der nationalen Unabhängigkeit einer Republik „Padania“ und ihres Austritts aus dem italienischen Staatsverband. Die politische und mentale Krise, die Italien nunmehr seit mehr als einem Jahrzehnt im Übergang von der „Ersten“ zur „Zweiten Republik“ erlebt, steht im Zeichen einer grundlegenden Debatte über die institutionellen Alternativen zu dem durch das Risorgimento hervorgebrachten Verwaltungszentralismus und dem daraus resultierenden, als defizitär empfundenen politischen Partizipationssystem.
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Diese tagespolitische Auseinandersetzung enthält eine kuriose Note im Zusammenhang mit dem historischen Werdegang des geeinten Italien: Denn sie wird durch den neuen und beunruhigenden Umstand gekennzeichnet, dass der momentane Widerspruch gegen Staat und Gesellschaft Italiens sich nicht im Süden, sondern gerade in den nördlichen Regionen regt, die wie die Lombardei nahezu 150 Jahre als die klassischen ,Motoren‘ des politischen und wirtschaftlichen Einigungsprozesses galten. Hatte die Gründung der italienischen Republik und die in ihr verwirklichten regionalen Verwaltungsfreiheiten - etwa in Gestalt des 1946 für Sizilien erlassenen Autonomie-Statuts - die seit der italienischen Einigung von 1861 schwelenden Konflikte zwischen Zentralstaat und südlichen Regionen zunächst besänftigen können, so lässt sich neuerdings im wirtschaftlich und sozial als gefestigt angesehenen Norden separatistischer Unmut feststellen.
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Mehr noch: Die Ursachen der italienischen Krise(n), die seit langem mit Camorra, 'Ndrangheta und Mafia im Süden in Verbindung gebracht worden waren, scheinen sich im Zuge der unter der Losung der „Mani pulite“ („Saubere Hände“) von der Mailänder Justiz ab 1992 vorangetriebenen Initiative gegen Korruption und organisierte Kriminalität ebenfalls nach Norden verlagert zu haben: Die als „Tangentopoli“ diagnostizierte finale Krise der „Ersten Republik“, deren administrative Funktionsweise und politische Handlungsfähigkeit auf einem korruptiven Beziehungsgeflecht zwischen den großen Parteien und lokalen Bürokratien einerseits und Wirtschaftsunternehmen und traditionellen mafiösen Organisationen andererseits beruhte, hat innerhalb kürzester Zeit zur Auflösung des Parteiensystems, zur Abdankung der gesamten politischen Regierungselite und zu einer nachhaltigen Erschütterung der nationalen Identität geführt.2 Allerdings kann der lombardische Sezessionismus heute als minoritäre Bewegung betrachtet werden. Die mit rassistischen Losungen gegen die Süditaliener und mythisch überhöhten Anleihen aus der Geschichte inszenierte Proklamation der „Padania“ bewies kaum Mobilisierungskraft und blieb zumindest bisher ohne separatistische Konsequenzen.3 Immerhin stimmten die Italiener im Verfassungsreferendum von 2001 jedoch bereits für eine föderalistische Lockerung des Zentralstaats. Auch lässt sich noch nicht absehen, wie sich der erneute politische Machtgewinn Umberto Bossis unter der zweiten Regierung Silvio Berlusconis auswirken wird.
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Ein Kuriosum hat der separatistische Protest aus dem Norden indes hervorgebracht: Die festgestellte geographische Umkehrung der Loyalitätslagen fand ihre Bekräftigung darin, dass an jenem Septemberwochenende von 1996 gegen Umberto Bossi und für Italien mit besonderer Vehemenz vor allem in Neapel und Palermo öffentlich demonstriert wurde, dort also, wo im Verlauf des Risorgimento und darüber hinaus doch eher die Achillesferse der unitarischen Nationalstaatsidee lokalisiert worden war. Dass nun der Süden oder neuerdings der Norden als Herd krisenhafter Erscheinungen im nationalen Einheitsstaat empfunden werden konnte, hat sehr viel mit dem Bild Italiens in der neueren italienischen Geschichte zu tun, die auf den Kampf um die nationale Einigung als zentralem historischen Ereignis im „langen“ 19. Jahrhundert fokussiert. Beschrieb doch darin für lange Zeit das Konzept des Risorgimento eine ideale Entwicklung der nationalen „Wiedergeburt“ Italiens, die in den kurzlebigen jakobinischen Republiken von 1796-1799 und den sich daran anschließenden napoleonischen Satellitenmonarchien ihren Ausgang nahm, um dann gegen die zählebigen Beharrungskräfte der Restaurationsordnung und in zum Teil blutigen Auseinandersetzungen dennoch zielstrebig zur nationalen Einheit zu führen. Die Unabhängigkeits- und Befreiungsbestrebungen glichen in der italienischen Nationalgeschichtsschreibung oft einem nationalen Martyrium, das über eine fortschreitende Reihe zahlloser Erhebungen und Aufstände gegen die Fremdherrschaft (1820, 1831, 1848) und unter charismatischer Führung Giuseppe Mazzinis (1805-1872) und Giuseppe Garibaldis (1807-1882) trotz aller Niederlagen und Opfer durch das diplomatische Geschick des Grafen Camillo Benso di Cavour (1810-1861) schließlich doch in die piemontesische (Er-)Lösung eines italienischen Einheitsstaates mündete. Eine solche Sichtweise war der Risorgimento-Ideologie geschuldet, wie sie von den Einigern Italiens und den Trägern des neuen Nationalstaats nachträglich zu ihrer Legitimierung entwickelt worden war. Neuerdings vollzieht sich allerdings eine zunehmende Distanzierung der Geschichtsschreibung von der Risorgimento-Ideologie, die eben nicht mit ‚dem‘ Risorgimento als historisch-empirischer Prozess der italienischen Nations- und Nationalstaatsbildung gleichzusetzen ist.4 Auch im Folgenden gelangt das Risorgimento nicht so sehr als Ideologie, sondern als Begriff zur Periodisierung eines Prozesses der Nationalstaats- und Nationsbildung zur Anwendung, der hinsichtlich seiner Widersprüche und Brüche und nicht so sehr als vermeintlich geradlinige Entwicklung interessiert.
2.1 | Diplomatie und Nationalstaatsgründung | |
| 1815-1861 | |
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Die Epoche der italienischen Restauration war ab 1815 von einem tiefen Gegensatz gekennzeichnet, der sich zwischen der vorangegangenen Erfahrung des französisch-napoleonischen Konstitutionalismus und dem nun vorherrschenden Absolutismus habsburgischer Prägung im Bewusstsein der Zeitgenossen einstellte. Fast zwangsläufig entwickelte sich aus dieser Spannung eine „nationale Frage“, die schon in der Frühphase der Restauration in der Geheimbundorganisation der Carboneria zum Programm erhoben wurde und den Beschlüssen und Garantieerklärungen des Wiener Kongresses, der Österreichs Hegemonie in Italien als Gegengewicht zur französischen Macht besonders betont hatte, diametral gegenüberstand. Österreichs selbstgewählte Rolle eines „bewaffneten Gendarmen Italiens“ hat mithin in erheblichem Maß zur Stärkung der italienischen Nationalstaatsbewegung während der Restauration beigetragen: Das gemeinsame habsburgische Feindbild leistete der (vorläufigen) Überwindung der ideologischen Gegensätze zwischen demokratischen Geheimbündlern und moderaten Kräften in den italienischen Staaten entscheidenden Vorschub.
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Obwohl in den revolutionären Erhebungen von 1820/21 und 1830 erstmals Differenzen und Brüche innerhalb der Nationalbewegung zutage traten, wirkte die Erfahrung österreichischer Intervention und Fremdherrschaft im Ganzen doch einigend, um der Bewegung einen betont antihabsburgischen Akzent zu verleihen. Indem europäische Einflüsse den Anlass für die Revolutionen von 1820/21 in Neapel-Sizilien und in Piemont (spanische Revolution von 1820) sowie für die Aufstände von 1830 in Mittelitalien (französische Julirevolution) gegeben hatten, zeigte deren Misslingen, dass der nationale Befreiungskampf nur mit Unterstützung einer oder mehrerer europäischer Mächte erfolgreich zu führen sei. Dieser Eindruck verstärkte sich, als im griechischen Unabhängigkeitskampf 1821-1829 erstmals Interessengegensätze zwischen den Restaurationsmächten offen zutage traten und wenig später die belgische Nationalstaatsgründung von 1830 mit französisch-britischer Rückendeckung durchgesetzt werden konnte.5 Nach Lage der Dinge konnte es nur Frankreich sein, das mit seiner liberalen Verfassungstradition, vor allem aufgrund seiner Gegnerschaft zu Österreich, als „Schutzmacht“ Italiens in Frage kam. Allerdings zeigte schon 1830 Frankreichs höchst eigennützige Entscheidung zur Stationierung von Truppen in dem zum Kirchenstaat gehörenden Ancona, dass eine solche Interessenkoalition nur dann machbar sei, wenn Frankreichs Machtinteressen auf der Halbinsel ihrerseits hinreichende Berücksichtigung fänden.
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Der Orientierung an einer außeritalienischen Macht setzte der junge Carboneria-Anhänger Giuseppe Mazzini das Programm der „Giovine Italia“ unter dem Leitmotiv der Selbstbefreiung – „Italia farà da sé“ – und unter Ablehnung des piemontesischen Führungsanspruchs entgegen. Die nationale Einheit und Unabhängigkeit sollte allein durch das „Volk“ erkämpft werden. Indem Mazzini die nationale Befreiung „von unten“ propagierte und die italienische Einigung als impulsgebendes Moment zur Schaffung eines neuen „Europa der Völker“ verstanden wissen wollte, vollzog er erstens die (gedankliche) Verbindung von nationaler und sozialer Frage und stellte er zweitens die nationale Idee in einen universalen europäischen Zusammenhang. Mazzinis „Universalismus“ hatte freilich nichts gemein mit der von den Moderati in zunehmendem Maß angestrebten Einbindung nationaler Ziele in den Rahmen europäischer Machtpolitik.
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Im Verlauf der italienischen Revolutionen von 1848/49 traten die Gegensätze zwischen moderaten und demokratischen Kräften mit aller Deutlichkeit hervor. Die Moderati versuchten mit Unterstützung der savoyischen Krone und durch eine Plebiszitinitiative im habsburgischen Einflussbereich ein vereinigtes Oberitalien unter piemontesischer Herrschaft zu errichten. Die demokratisch-republikanische Richtung stürzte hingegen die moderaten Reformkabinette der Toskana und des Kirchenstaats und riefen in Rom die Republik aus. Die verheerende Niederlage gegen die österreichische und die französische Interventionsarmee schwächte die demokratische Bewegung Italiens nachhaltig. Aus den Revolutionen ging jener Teil des Moderatismo gestärkt hervor, der sich für eine Orientierung an der piemontesischen Führung und für eine realistische Berücksichtigung der europäischen Machtkonstellationen aussprach.6
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In nachrevolutionärer Zeit entwickelte sich das Königreich Sardinien als einziger italienischer Staat, in dem das konstitutionelle System von 1848 aufrechterhalten worden war, mit seinem kontinentalen Kernterritorium Piemonts zum Zentrum der italienischen Nationalstaatsbewegung. Die verfassungsmäßigen Garantien, der Beginn des Parlamentarisierungsprozesses sowie ein umfassendes gesellschaftliches und wirtschaftliches Reformprogramm näherten das nordwestitalienische Land unter der Regierung des Grafen Camillo Benso Cavour in den 1850er Jahren an das „moderne“ Westeuropa an. Nicht mehr Paris oder London, sondern Turin galt nun als Exilzentrum der in den italienischen Staaten verfolgten Demokraten und Moderati. Mit der „Società Nazionale“ schufen sich die piemontesisch orientierten Liberalen unter dem Patronat des populären Aktivisten Giuseppe Garibaldi zudem ein wirksames Pendant zur mazzinianischen Bewegung, wobei sie schließlich auch von der Bereitschaft Viktor Emanuels II. (1820-1878, ab 1849 König von Piemont-Sardinien, ab 1861 König von Italien) profitierten, sich unter der Losung „Vittorio Emanuele e l'Italia“ als nationale Integrationsfigur zu profilieren.
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Graf Cavour ordnete den Prozess der italienischen Nationalstaatsbildung strikt einer Berücksichtigung der internationalen Dimension der „italienischen Frage“ unter. Die ersten Schritte unternahm der piemontesische Ministerpräsident auf diplomatischer Ebene. Als Napoleon III. auf dem Pariser Kongress von 1856 die erneut auf der Tagesordnung stehende „Orientalische Frage“ zum Anlass nahm, das europäische Mächtegleichgewicht zugunsten Frankreichs umzustrukturieren und Österreich in die Isolation abzudrängen, gelang es Cavour, Piemont als anerkannte Führungsmacht Italiens im Mächtekonzert einzuführen und zugleich eine Annäherung gegenüber dem französischen Souverän herbeizuführen. Die diplomatische Strategie des piemontesischen Ministerpräsidenten besaß dabei auch einen inneritalienischen Bezugspunkt, indem sie nämlich die von Mazzinis republikanischer Bewegung ausgehende Bedrohung der europäischen Stabilität zugunsten der Anerkennung der nationalen Politik Piemonts als „kleineres Übel“ ausspielte. Im Kontext des Cavourschen Argumentationsrahmens verbanden sich national- und außenpolitische Zielsetzungen so geschickt, dass schließlich mit dem französisch-piemontesischen Abkommen von Plombière eine für beide Seiten vorteilhafte Regelung getroffen werden konnte.
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Jedoch entzogen sich die revolutionären Ereignisse, die 1859 mit dem französisch-piemontesischen Krieg gegen Österreich in den italienischen Staaten ausgelöst wurden, bald der Kontrolle der Signatarmächte von Plombière. Durch sein vorzeitiges Einlenken gegenüber Österreich in Villafranca konnte Napoleon III. die Befreiungswelle, die nun die gesamte Halbinsel und Sizilien erfasste, nicht mehr eindämmen. Vielmehr sah sich der französische Kaiser angesichts der süditalienischen Bauernaufstände gezwungen, der piemontesischen Besetzung weiter Teile des Kirchenstaats zum Schutz vor der aus Unteritalien in Gestalt des garibaldinischen „Zuges der Tausend“ herannahenden Bedrohung stillschweigend zuzustimmen. Als im März 1861 das erste Nationalparlament in Turin Viktor Emanuel II. zum König von Italien proklamierte, umfasste das neugeschaffene Staatsgebilde somit fast die gesamte italienische Halbinsel, mit Ausnahme des habsburgisch gebliebenen Venetiens und des kirchenstaatlichen Restterritoriums (d. h. Latium und Rom). Die Integration dieser Territorien in das italienische Königreich sollte schließlich nach dem bewährten Muster voranschreiten, also unter Ausnutzung der europäischen Machtverschiebungen, wie sie sich durch die von Preußen ausgehenden Kriege gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) ergaben.7
2.2 | Kompromisse und Defizite | |
| bei der inneren Staatsgründung 1861-1876 | |
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Obwohl es den gemäßigt-liberalen Regierungen der „Destra“, d. h. der Historischen Rechten, in ihrer 15jährigen Amtszeit 1861-1876 gelang, die nationalstaatliche Einigung durch ihren administrativen, rechtlichen und finanzpolitischen Unterbau abzusichern, blieben die Integrität und Stabilität des neuen Staatswesens labil und gefährdet. Nach dem Wegfall der österreichisch-habsburgischen Fremdherrschaft und des damit verbundenen kollektiven Feindbildes, nach dem durch den Sturz Napoleons III. eingeleiteten Bedeutungsverlust Frankreichs für die italienische Politik traten die inneren Defizite und Widersprüche der nationalen Einigung stärker denn je hervor: Den diplomatischen und militärischen Herausforderungen der 1850er und 1860er Jahre folgten die innenpolitischen Probleme auf dem Fuß. Mit großer Dringlichkeit stellte sich nun die Aufgabe der wirtschaftlichen, sozialen, mentalen und politischen Einigung, deren Bewältigung sich letztlich entscheidend auf die Existenzfähigkeit des italienischen Nationalstaats auswirken musste.
– Liberale Führungselite und Nationalstaatsgegner –
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Die in der Entstehungsphase des italienischen Nationalstaats aufgetretenen Widersprüche zwischen gemäßigt-konstitutionellem und radikal-demokratischem Liberalismus manifestierten sich im ersten Turiner Nationalparlament in Gestalt des Antagonismus zwischen der Mehrheit der „Destra storica“ („Historische Rechte“) und der Opposition der „Sinistra storica“ („Historische Linke“). Der Gegensatz zwischen beiden Richtungen spitzte sich besonders in der „römischen Frage“ zu, um sich anschließend in einem sukzessive voranschreitenden Prozess der Annäherung zusehends abzuschwächen und dann durch die Praxis des „trasformismo“ gänzlich aufzuheben.8
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Die sogenannte „parlamentarische Revolution“ von 1876, mit der nach 15jähriger Hegemonie der Destra die Anhänger der Sinistra an die Regierung gelangten, bedeutete angesichts des vorangegangenen Annäherungsprozesses zwischen den politischen Lagern und des noch geringen Organisationsgrades der politischen Parteien keine eigentliche parlamentarische Umwälzung. Seitdem das nationale Ziel erreicht worden war, befand sich die Destra ohnehin in einem Prozess der Auflösung, denn nun ließ die bindende Kraft zwischen den heterogenen Komponenten der gemäßigt-liberalen Bewegung nach.9 Gleichzeitig hatten viele Demokraten längst ihren revolutionären Aktionismus aufgegeben und sich mit der monarchischen Verfassung abgefunden, so dass ein Zustand erreicht war, in dem dem liberalen Konservatismus der Destra der progressiv-demokratische Reformismus der Sinistra an die Seite trat.
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Der extreme Flügel der republikanischen Opposition, der sich (noch) nicht in das Verfassungssystem integrieren ließ und die außerparlamentarische Organisation bevorzugte, wandte sich verstärkt der sozialen Frage zu. Dabei geriet er zeitweilig in direkte Berührung mit anarchistischen Gruppen, wurde kriminalisiert und vom parlamentarischen Teil der Sinistra losgelöst.10 Dies galt um so mehr, als die vor allem von Michail Alexandrovic Bakunin (1814-1876) inspirierte anarchistische Propaganda seit 1865 den italienischen Nationalstaat als solchen in Frage stellte und auf die Mobilisierung der breiten Massen gegen den zentralistischen Einheitsstaat setzte.11 Nach der Verurteilung der Pariser Kommune durch Mazzini und begünstigt durch dessen baldigen Tod (1872) gelang es dem Bakuninismus, die italienische Arbeiterbewegung entscheidend zu beeinflussen und große Teile von ihr in der italienischen Föderation der Internationale zu vereinigen. Diese vertrat nach dem Bruch mit Marx und dem Londoner Büro einen libertären Sozialismus und trug maßgeblich dazu bei, dass der wissenschaftliche Sozialismus marxistischer Prägung in Italien erst mit einiger Verzögerung gegen Ende des Jahrhunderts Verbreitung finden konnte.12 Es bleibt dennoch umstritten, ob die Konversion vieler ehemaliger Mazzini-Anhänger zum Anarchismus eine wirkliche ideologische Wandlung zur Basis hatte oder ob sie vielmehr nicht eher aus der Unzufriedenheit resultierte, mit der die vormaligen „Freiheitskämpfer“ und „Rothemden“ auf die mit der nationalen Einigung verbundenen Kompromisse und Enttäuschungen reagierten.
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Zum besonderen Charakter der frühen italienischen Arbeiterbewegung gehörte es, dass sie sich zunächst innerhalb des Mazzinismus formiert und damit in idelogischer Nähe zur Nationalbewegung entwickelt hatte. Nach der Einigung wurde sie – bis zu der von Andrea Costa (1851-1910) 1879 vollzogenen Wende zu einem legalen Aktionsprogramm – von der anarchistischen Bewegung dominiert, die über die ursprünglich bereits angedeutete Verknüpfung von nationaler und sozialer Frage weit hinausging. Tatsächlich vertrat der italienische Anarchismus in seiner Ablehnung des (nationalen) Staatsprinzips und in der gleichzeitigen Thematisierung der sozialen Missstände, die das politische Einigungswerk hinterlassen bzw. erst offen gelegt hatte, eine ausgesprochen kompromisslose Position. Die politische Führung sah sich – ob Destra oder Sinistra – dadurch zu zu härtesten Repressionsmaßnahmen veranlasst und verfolgte sowohl die republikanische als auch die anarchistische Opposition unterschiedslos als „moti sovversivi“ („subversive Umtriebe“).13
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Die liberale Staatsführung profitierte nicht nur von der Organisationsschwäche und dem unreflektierten Aktionismus der Extremen Linken, sondern auch von der intransigenten Haltung des Papstes gegenüber dem neuen Nationalstaat und vom Selbstverzicht des Katholizismus auf politische Mitwirkung, der die Ausbildung einer ernst zu nehmenden politischen Opposition nachhaltig verhinderte.14 Allerdings kam es nach der Einigung Italiens zu einer Annäherung zwischen den mit den sozialen Ergebnissen der nationalen Unabhängigkeit unzufriedenen Bevölkerungskreisen und den klerikalen Instanzen, die nun an der Peripherie gegen den laizistischen Staat agitierten: Die durchaus charismatische Bedeutung, die Pius IX. zuvor als „nationalem Papst“ im Sinne des Neoguelfismus der Moderati zugestanden worden war, erwies sich dabei als ungebrochen, obwohl oder gerade weil sie eine entgegengesetzte programmatische Ausrichtung zur Grundlage hatte. Die katholische Kirche verweigerte sich somit langfristig nicht nur einer möglichen Integrationsfunktion im Dienste der nationalen Identitätsbildung, sondern bündelte die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung zu einem konstanten Protestbewusstsein gegen den „stato usurpatore“, welches allerdings im politisch-parlamentarischen Rahmen ohne wirksame Ausdrucksmöglichkeit blieb.
– Die savoyische Dynastie auf italienischem Thron –
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In dem Maße, wie sich der piemontesische Führungsanspruch bei wachsenden Teilen der Nationalbewegung durchsetzte, fielen der savoyischen Krone integrative Funktionen im Zuge des Aufbaus eines italienischen Nationalstaats zu. Diese Tendenz wurde durch den Umstand begünstigt, dass sie sich als einziges Herrscherhaus auf der italienischen Halbinsel der nationalen Sache annehmen konnte, ohne dadurch einen Interessenkonflikt mit anderen Zweigen der Dynastie heraufzubeschwören. Vor allem aber bot Viktor Emanuel II. mit der Aufrechterhaltung des konstitutionellen Systems von 1848 die Grundvoraussetzung für die Rekrutierung und Formierung des italienischen Liberalismus im Sinne der piemontesischen Nationalstaatsidee. Die unlösbare Identität zwischen savoyischer Monarchie und nationaler Idee fand ihren Niederschlag schließlich auch in der Formel zur Proklamation eines unabhängigen Königreichs Italien, mit der die dynastische Kontinuität zwischen piemontesisch-sardischem Herrscherhaus und italienischem Thron deutlich akzentuiert wurde.15
<20>
Allerdings fand die nationale Funktion der savoyischen Krone längst nicht in allen Teilen der Nationalbewegung Anerkennung. Die republikanisch orientierten Mazzinianer sahen in ihr nur eine Verschleierung der traditionellen, auf Oberitalien bezogenen Expansionsbestrebungen der savoyischen Monarchie, wie sie bereits Karl Albert (1798-1849, ab 1831 König von Piemont-Sardinien) 1821 und 1848 im Bündnis mit den Moderati umzusetzen versucht hatte. Nach der nationalen Einigung begann die republikanische Opposition, die politische Legitimität der konstitutionellen Monarchie in Frage zu stellen und auf den zweifelhaften Charakter der Annexionsplebiszite hinzuweisen. Als Alternative forderte man die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, in der allen Teilen der Nationalbewegung die Möglichkeit gegeben sein sollte, die Grundlagen des künftigen politischen Systems mitzugestalten.
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Auch wenn der Misserfolg dieser demokratischen Initiative zweifellos nachhaltige Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Destra-Regierung und savoyischer Monarchie einerseits sowie republikanischer Opposition andererseits hatte, darf nicht übersehen werden, dass das Königshaus auch in den Reihen der demokratischen Bewegung Unterstützung fand und einige Exponenten dieser Richtung sogar in die Regierungsarbeit eingebunden werden konnten. Im Zuge des inneren Einigungsprozesses wurde die Krone immer weniger als trennendes Element, d. h. als piemontesische Institution, im Nationalstaat empfunden, sondern zunehmend als Symbol der nationalen Einheit begriffen. Mit zunehmender Parlamentarisierung des italienischen Verfassungssystems verwandelte sich die konstitutionelle in eine repräsentative Monarchie, so dass auch unter diesem Aspekt die Bedeutung dynastischer Interessen hinter Fragen der Kompetenzausstattung von Ministerpräsident und Parlament zurücktrat.
– Die Armee zwischen äußeren Niederlagen und innerer Effizienz –
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Nicht wenige Einsätze der piemontesisch-italienischen Armee sind dem zwischen gemäßigtem und demokratischem Liberalismus bestehenden Konfliktpotential zuzuordnen. Die Stellung der Streitkräfte im italienischen Nationalstaat verband sich darüber hinaus stets mit der Frage ihres Verhältnisses zum savoyischen Herrscherhaus bzw. ihrer Haltung gegenüber der konkurrierenden und freiheitlichen Kampf- und Militärtradition, die durch Garibaldi und seine „Rothemden“ begründet worden war.
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In den Revolutionstagen von 1848 waren die piemontesischen Streitkräfte zu einem Zeitpunkt in die Lombardei eingerückt, als deren Bevölkerung bereits aus eigener Anstrengung die habsburgischen Truppen in die Flucht geschlagen hatte. Die anschließende zweifache Niederlage gegen die österreichische Armee trug naturgemäß nicht dazu bei, das Vertrauen in Piemonts Führung zu erhöhen. Nach 1861 nahm der zwischen „Rothemden“ und piemontesisch-italienischer Armee schwelende Antagonismus erheblich an Schärfe zu, was sich etwa 1862 im Zusammenstoß von Aspromonte äußerte. Der Einsatz der Armee bei der Niederschlagung des süditalienischen „brigantaggio“, einer breiten Aufstandsbewegung der Landbevölkerung gegen den Einheitsstaat, löste in Unteritalien und auf Sizilien massenhafte Wehrdienstverweigerung und Desertion aus. Andererseits fehlte es nicht an Versuchen, die Armee zu einem Organ der nationalen Erziehung umzuformen. Der dreijährige Wehrdienst wurde bewusst auf nationaler und nicht regionaler Ebene organisiert: Jedes Regiment rekrutierte sich aus zwei auseinander liegenden und sich im Sprachdialekt unterscheidenden Regionen, um dann in einer dritten Region stationiert zu werden.
<24>
Allerdings verlieh der Einsatz der Truppen gegen die bis 1865 anhaltende süditalienische Aufstandsbewegung der Armee ungeachtet aller Integrationsbemühungen zusehends den Charakter eines Organs der inneren Sicherheit. Die Außenwirkung der Streitkräfte war dagegen bis zum Krieg gegen die Türkei (1911) kaum von Erfolg gekrönt. Angesichts der traumatisch nachwirkenden Niederlagen von Custoza und Lissa (1866), denen Garibaldis Siege im Trentino gegenüberstanden, wurde das Versagen der Nationalarmee aber auch im Innern zum Symbol der Begrenztheit, Unfertigkeit und Widersprüchlichkeit des Einigungswerkes.
– Die zentralistische Lösung für den Mezzogiorno –
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Die auf die Plebiszite von 1860 folgende Angliederung der einzelnen Regionen an den Nationalstaat war nicht gleichbedeutend mit der sofortigen und flächendeckenden Übernahme der piemontesischen Verwaltungs- und Rechtsordnung.16 Aus Gründen der politischen Opportunität entschied man sich vielmehr für ein Programm, das in mehreren Phasen über provisorische Regierungen und Statthalterschaften zur administrativen Einheit führen sollte. Dort, wo die piemontesischen Verwaltungsstrukturen bereits vor der plebiszitären Sanktion eingeführt worden waren, verzichtete man allerdings auf eine sukzessive Strukturangleichung und blieb man an das piemontesische Vorbild gebunden.
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Eine entscheidende Zäsur bildete die Ausdehnung des nach seinem Schöpfer Urbano Rattazzi (1808-1873) benannten piemontesischen Verwaltungsgesetz auf ganz Italien unmittelbar nach der nationalen Einigung.17 Mit dem Gesetz Rattazzi wurde zwar 1861 der bürokratische Apparat dezentralisiert, indem die Präfekten nun eine Reihe von zuvor zentralstaatlichen Kompetenzen erhielten; gleichzeitig aber verstanden sich die Präfekten in ihrer Eigenschaft als oberste Autorität der Provinzen in erster Linie als Vertreter der Zentralregierung, deren Interessen sie an der Peripherie durchzusetzen hatten.18 Im Ergebnis ging der zentralisierende Effekt des Verwaltungsgesetzes über die ursprünglichen Intentionen und administrativen Vorstellungen der gemäßigt-liberalen Elite und selbst Cavours deutlich hinaus.19 Dies offenbart eine Initiative des Innenministers Luigi Carlo Farini (1812-1866), mit dem dieser noch im August 1860 für ein Verwaltungsmodell plädiert hatte, das die Einrichtung regionaler Instanzen und die Gewährung von Mitbestimmungsrechten für regionale Repräsentationsorgane vorgesehen hatte. Auf diesem Wege sollte dem besonderen Charakter der Fusion von Emilia und Toskana mit Piemont Tribut gezollt werden, da sich die mittelitalienischen Regionen weitgehend selbst befreit hatten und ihnen somit auch ein größeres Mitsprachrecht im künftigen gemeinsamen Staatsverband zugebilligt wurde. Zu diesem Zeitpunkt ging es also noch um den Aufbau eines einheitlichen italienischen Staatswesens, das neben Piemont und der Lombardei lediglich die Mitte der Halbinsel miteinschließen sollte.
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Unter dem Eindruck des siegreichen Vormarsches der Garibaldiner auf Sizilien änderte sich dieses Szenario in den folgenden Monaten grundlegend. Die Perspektive auf eine Integration Süditaliens in den künftigen Nationalstaat veranlasste zu einer Revision des angestrebten Verwaltungsmodells, indem nun erste Einschränkungen der beabsichtigten regionalen Repräsentation duskutiert wurden. Der Region, die nunmehr als rein bürokratische Verwaltungseinheit konzipiert wurde, sollten demnach eigene legislative Instrumentarien und lokale Selbstverwaltungsbefugnisse weitgehend vorenthalten bleiben. Der Vormarsch der „Rothemden“ warf immer eindringlicher die Frage auf, mit welchen Mitteln der Führungsanspruch der piemontesischen Liberalen an der süditalienischen Peripherie dauerhaft durchsetzbar sei.
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Die sozialen Unruhen, von denen die Umwälzungen im Mezzogiorno begleitet wurden, offenbarten erstmals die auf der Halbinsel vorherrschenden sozioökonomischen Unterschiede als Hypothek des künftigen italienischen Nationalstaats und schürten die Furcht vor revolutionären Ausbrüchen. Diese Revolutionsangst wurde zum handlungsbestimmenden Motiv in der Politik der liberalen Führungsschicht und begründete deren Orientierung an vornehmlich sicherheitspolitisch ausgerichteten Gesellschaftsvorstellungen, die kaum dazu geeignet waren, dem entstehenden Nord-Süd-Gegensatz eine wirksame Integrationsperspektive entgegenzusetzen.20
– Staatliche Bildungspolitik zwischen nationaler Spracheinheit und regionalem Kulturgefälle –
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Die Verbreitung eines einheitlichen Sprachbewusstseins gilt als wesentliche Voraussetzung für die Entstehung und Förderung nationaler Identität. Die diesbezügliche Situation im geeinten Italien war einerseits durch eine Vielzahl regionaler und lokaler Sprachdisparitäten bestimmt, die sich als Dialekte und zum Teil auch als Fremdsprachen kennzeichnen lassen; andererseits sah sich die italienische Bildungspolitik mit dem Problem des Analphabetismus konfrontiert, das wiederum eng verknüpft war mit den Defiziten eines Schulsystems, das noch Jahrzehnte nach der politischen Einigung in seiner Elementarausbildung keinen dauerhaften Kontakt zur Nationalsprache garantieren konnte.
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Das Schulwesen war in den italienischen Einzelstaaten trotz vielfältiger liberaler Bemühungen um Laizierung mehrheitlich der kirchlichen Kontrolle unterworfen. Einzig das österreichische Bildungssystem in Lombardo-Venetien präsentierte sich offener und moderner, um besonders auf der Hochschulebene seit 1848/49 zu einer bedeutenden Rekrutierungsinstanz der Nationalbewegung zu avancieren.21 Gleichwohl wurden auch in der Lombardei und in Venetien die piemontesischen Vorgaben als Grundlage für ein einheitliches Bildungssystem herangezogen.
<31>
Die Übertragung des piemontesischen Bildungssystems auf ganz Italien stellte vorallem deshalb ein problematisches Unterfangen dar, weil dadurch die strukturelle Schwäche im Bildungssektor der südlichen Regionen kaum aufgefangen werden konnte, sondern im Gegenteil noch vertieft wurde.22 Denn in Piemont galt seit 1859 die kommunale Zuständigkeit im Grundschulwesen. Die Übertragung dieser Bestimmung auf das ganze Königreich musste faktisch dazu beitragen, dass die allgemeine Schulpflicht nur in denjenigen Gemeinden realisiert werden konnte, in denen auch ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Schließlich erhielten diese Versäumnisse der Bildungspolitik infolge der mit der Wahlrechtserweiterung von 1882 vorgenommenen Bindung des Wahlrechts an den Schulbesuch eine noch größere politische Brisanz. Erst 1911 sollten die Elementarschulen Italiens der zentralstaatlichen Verwaltung unterstellt werden.
<32>
Mit ganz anderer Intensität gestaltete sich allerdings das staatliche Engagement zur Herstellung der Spracheinheit. Die italienische Regierung ergirff die Initiative und beendete die nahaltende sprachpolitische Debatte, indem sie die von Alessandro Manzoni (1785-1873) vertreten Richtung unterstützte, die das Florentinische zur Grundlage der künftigen Nationalsprache erhoben wissen wollte. In der gesellschaftlichen Realität wurde die sprachliche Vereinheitlichung freilich nicht immer mitgetragen, obgleich die Schaffung eines nationalen Marktes und die infratsurkturelle Erschließung des Landes die Verbreitung der Nationalsprache zweifellos forcierten. Zunehmende öffentliche Kommunikation und steigende Mobilität leisteten der sprachlichen Amalgamierung zwischen den einzelnen regionalen Ausdrucksformen Vorschub, wenn auch der ländlich geprägte Süden hinter sich entwickelnden sorachlichen Homogenität des urbanen Nordens weit zurückhinkte und Regionaldialekte dem Protest gegen Staatlichkeit und Zentralismus weiterhin Ausdruck verliehen.
– Soziale Bruchstellen im nationalen Einigungswerk –
<33>
Einige Fraktionen der italienischen Nationalbewegung hatten sich schon frühzeitig für eine Verbindung von nationalem und sozialem Befreiungskampf eingesetzt. Neben den Vertretern des sogenannten „risorgimentalen Sozialismus“, der sich allerdings kaum zu einer bedeutenden politischen Kraft entwickeln konnte, war es vor allem Mazzini, der mit dem Streben nach einer unitarischen italienischen Republik auch das Ziel einer gesellschaftlichen Einheit verband.23
<34>
Während seines Londoner Exils war Giuseppe Mazzini 1836-1848 unter dem Eindruck der Chartistenbewegung mit den sozialen Begleiterscheinungen der Industrialisierung konfrontiert worden. Obwohl eine vergleichbare Entwicklung des ökonomischen Sektors für Italien zu diesem Zeitpunkt allenfalls in Ansätzen erkennbar war, unternahm er daraufhin intensive Bemühungen zur vereinsmäßigen Organisation der Arbeiterschaft, wohl unter dem Gesichtspunkt, soziale Spaltungen innerhalb der Nationalbewegung möglichst erst gar nicht aufkommen zu lassen. Während sich Mazzini auf diese Weise an die städtischen Unterschichten und das kleine und mittlere Bürgertum des Nordens wandte, stand er den sozialen Problemen und der agarischen Lebenswelt des Südens mit Befremden gegenüber und versäumte es, die Agrarfrage zu thematisieren, nicht zuletzt, weil er die Bauernschaft überwiegend als fortschrittshemmende gesellschaftliche Kraft betrachtete.
<35>
Die Landbevölkerung zeigte sich während des Risorgimento zumindest in zwei Fällen bereit, ihr Bestreben nach sozialer Veränderung durch aktive Mitwirkung am nationalen Befreiungskampf in die Tat umzusetzen. Zunächst wurde der Ausbruch der Mailänder Revolution von 1848 von einer breiten Aufstandswelle der lombardischen Provinzen begleitet, deren Bevölkerung die nationale Revolution mit dem Kampf um die Land- und Agrarrechte identifizierte. Die Bauernrevolte blieb allerdings aufgrund ihres spontanen Charakters ohne politische Schlagkraft; weder Demokraten noch Moderati wussten die Gelegenheit zu nutzen, dem nationalen Unabhängigkeitskampf durch Einbindung der Landbevölkerung eine breitere Basis zu verschaffen. Zum zweiten blieb der Aufstand der sizilianischen Bauern, der im Frühjahr 1860 Garibaldis „Tausend“ den Weg ebnete, auf ähnliche Weise ein isoliertes soziales Protestphänomen, das letztendlich durch die Militärdiktatur des „Generals“ zerrieben wurde.
<36>
Nach der Einigung Italiens schlug sich die Unzufriedenheit über die ausgebliebene Agrarreform und die harte Steuerpolitik in mehreren Unruhen nieder. Im Süden veranlasste der „brigantaggio“ den italienischen Zentralstaat, die betroffenen Regionen bis 1865 in einer Art von permanenten Ausnahmezustand von Restitalien zu isolieren und vom Geltungsbereich der konstitutionellen Grundrechte weitgehend abzuschneiden.24 Die Einführung der Mahlsteuer (1868) zog eine erhebliche Verteuerung der Grundnahrungsmittel nach sich und führte vor allem in der Emilia zu heftigen Demonstrationen und einem deutlichen Anstieg der Emigrationsbewegung. Gegen Mitte der 1870er Jahre wurde in zunehmendem Maß auch die industrielle Arbeitswelt von Streikwellen und Unruhen erfasst.
<37>
Die immer häufiger und vehementer aufflammenden Unruhen und Streiks stellten zwar ein öffentliches Problembewusstsein für die soziale Zerrissenheit des Landes her, eine konkrete sozialpolitische Reaktion des Staates blieb allerdings aus. Der Verzicht auf ausgleichende sozialpolitische Eingriffe kann mit der Finanznot des jungen Nationalstaates nicht ausreichend erklärt werden, sondern bedarf der Einbettung in den allgemeinen europäischen wirtschaftspolitischen Diskurs der Zeit, in dem das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kontrovers thematisiert wurde. So entwickelte sich auch in der liberal-konservativen Publizistik Italiens ab Beginn der 1870er Jahre eine entsprechende Auseinandersetzung, in der sich quer zu den „partei“politischen Strömungen von „Destra“ und „Sinistra“ die Anhänger des Wirtschaftsliberalismus (toskanische „Destra“ und süditalienische „Sinistra“) gegen den Protektionismus der lombardisch-venetischen Industriellen formierten.25
<38>
Mit der Erfindung und Thematisierung der sogenannten „Südfrage“ legten die Meridionalisten nun den im politisch geeinten Italien sichtbar gewordenen Sozial- und Wirtschaftsdualismus offen, ohne freilich ein Umdenken der einseitigen staatlichen Wirtschaftspolitik herbeiführen zu können. Der Nord-Süd-Antagonismus gilt seither als außerordentlich schwere Hypothek auf Italiens Weg zum modernen Einheits- und Nationalstaat.
– Großmachtpolitik und soziale Integration –
<39>
Nach einer ersten Phase außenpolitischer Mäßigung und Kompromissbereitschaft, die ihren Höhepunkt in der auf dem Berliner Kongress von 1878 vollzogenen Politik der „mani nette“ (der „leeren Hände“) gefunden hatte, stellte die ab 1882 mit den Mittelmächten aufgenommene Dreibund-Politik in zweifacher Hinsicht eine Wende dar. Das Zusammengehen mit Österreich zog einerseits die Verpflichtung nach sich, den im Innern erstarkenden Irredentismus unter Kontrolle zu halten und den traditionellen antiösterreichischen Ressentiments in der italienischen Öffentlichkeit entgegenzuwirken, befreite Italien auf der anderen Seite jedoch erstmals aus seiner Isolation und lieferte die notwendige diplomatische Absicherung seiner Kolonialpolitik im nordafrikanischen Raum. Im Zuge der Entfaltung einer imperialistischen Politik wurde nun der ursprüngliche „Risorgimento-Nationalismus“ durch den so genannten „integralen Nationalismus“ (Eugen Lemberg, Peter Alter) abgelöst.
<40>
Nach dem Misserfolg in Tunesien, über das Frankreich seine Protektoratsherrschaft errichtet hatte, begann 1885 mit der Besetzung von Massaua die eigentliche Phase des italienischen Kolonialismus. Die anfänglich nur zögerliche Zustimmung der Öffentlichkeit wich einem enthusiastischen Eroberungsstreben, das sich unter der Regierung von Francesco Crispi 1887-1891 und 1893-1896 zu großmachtpolitischen Ansprüchen steigerte. Neben dem nahezu gesamteuropäischen Phänomen machtpolitischer Expansion orientierte sich die von der italienischen Regierung zuerst in Tunesien stillschweigend geförderten und später durch die ostafrikanischen Eroberungen direkt unterstützte Siedlungsbewegung auch an dem sozialintegrativen Ziel, den ungestillten Landhunger der mittellosen Bauern und Landarbeiter Süditaliens mit afrikanischen Territorien zu kompensieren. Die Kolonialpolitik Crispis beruhte somit eher auf ideologischen und innenpolitischen als auf ökonomischen Motiven. Die Industriellen des italienischen Nordens kritisierten in der Tat die kostenintensiven Kolonialunternehmen folgerichtig als Fehlinvestitionen, während der Regierungschef im Mezzogiorno mit seinem Mythos von der „terra facile“, also dem leicht zu erobernden Land, zeitweilig große Popularität erlangte.
<41>
Crispi konnte seine Regierungspolitik auf eine Koalition nationalistischer und liberal-konservativer Strömungen stützen, die sich vor allem unter dem Druck der erstarkenden sozialistischen Bewegung zusammengefunden hatte und sich nicht scheute, zu Ausnahmegesetzen und partiellen Verfassungsaufhebungen zu greifen, nachdem 1896 die erste Phase des italienischen Kolonialismus im ostafrikanischen Adua zu einem abrupten und vorläufigen Ende gekommen war. Spätestens jetzt zeigte sich, dass die Enttäuschung der mit der politischen Einigung nicht eingelösten Hoffnungen auf wirtschaftliche und soziale Verbesserungen das Aufkommen regionaler und antistaatlicher Protestbewegungen nachhaltig begünstigte und zu einer vertikalen, gesellschaftlichen Spaltung des Landes zwischen „paese reale“ und „paese legale“ führte, die durch die voranschreitende Auseinanderentwicklung der horizontal-geographischen Wirtschaftsverhältnisse weiter vertieft wurde.26
<42>
Die Niederlage von Adua stellte in außen- wie innenpolitischer Hinsicht einen markanten Einschnitt in der Entwicklung des italienischen Nationalstaats dar. Die 1896 deutlich gewordene Begrenztheit sozialimperialistischer Regierungspolitik stürzte die Nation in eine tiefe Identitätskrise, die sich in den antiparlamentarischen Überlegungen - „Torniamo allo Statuto!“ - eines Sidney Sonnino (1847-1922), in konservativer Reaktion und linksradikaler Obstruktion Ausdruck verschaffte. Dem italienischen Linksliberalismus und seinem neuen sozialen und politischen Integrationskonzept war es schließlich zu verdanken, dass diesem dunklen Kapitel italienischen Verfassungslebens bereits um die Jahrhundertwende ein Ende gesetzt und das 20. Jahrhundert zumindest vorläufig unter liberalen Auspizien eröffnet werden konnte.
2.3 | Kritische Traditionsbildung: Der Meridionalismus | |
<43>
Die bei der italienischen Nationalstaatsbildung feststellbaren Kompromisse und Defizite brachten noch während des territorialen Einigungsprozesses in den 1860er Jahren eine Geistesrichtung hervor, die sich unter kritischer Beurteilung der Ergebnisse des Risorgimento um Abhilfe bemühte. Unter dem Einfluss der historischen Ereignisse, die 1859-1871 zur territorialen Einigung Italiens führten, entstand eine Kritiklinie gegenüber dem Risorgimento, die sich in der späteren Geschichtsschreibung zur Tradition verdichtete und bis in die zweite Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts fortsetzte: der Meridionalismo. Dessen revisionistisches und reformerisches Potential zog keineswegs die Vorstellung eines zielgerichteten und unvermeidbaren nationalen Geschichtsverlaufes prinzipiell in Zweifel. Er knüpfte an die publizistische und historiographische Auseinandersetzung an, mit der im frühen 19. Jahrhundert jene Erfahrungen geordnet und aufbereitet worden waren, welche in der Retrospektive als Ursprung des Risorgimento galten: der umfassende politische und gesellschaftliche Wandel in den ‚jakobinischen‘ Republiken und napoleonischen Satellitenmonarchien bzw. im antinapoleonischen britischen Einflussbereich.27
<44>
Der frühe Meridionalismo entstand unmittelbar nach der Gründung des italienischen Nationalstaats unter dem Eindruck der Widersprüche und Brüche des nationalen Einigungsprozesses vor allem als sozialpolitische Reformbewegung. Die in der gesamten ersten Dekade nach der Einigung offen gebliebene „römische Frage“, die schmachvollen Niederlagen von Custoza und Lissa sowie der Verzicht auf die spätere „terra irredenta“ (Trient, Triest, Istrien), die 1866 die Integration Venetiens überschatteten, steigerten besonders auf Seiten des republikanischen Flügels der Nationalbewegung die Enttäuschung über die realpolitische Ernüchterung im monarchisch-konstitutionellen Einheitsstaat.28 Die zentralstaatliche Anbindung und „Piemontesierung“ des Südens löste dort in Gestalt des „brigantaggio“ eine bürgerkriegsähnliche Konfrontation zwischen aufständischer Landbevölkerung und Nationalarmee aus, die den Mezzogiorno in den Jahren 1861-1865 vom Geltungsbereich der konstitutionellen Grundrechte abschnitt. Vor dem Hintergrund der Industrieuntersuchung von 1870-1874 und der protektionistischen Kampagne der ersten Industriellenverbände entwickelte sich in den 1870er Jahren eine publizistische Debatte über die wirtschaftspolitische Funktion und die soziale Verantwortlichkeit des Staates. Wirtschaftliche und sozialreformerische Interessenvereinigungen bemühten sich um eine harmonische Zusammenführung der Gegensätze, die sich aus der beginnenden Industrialisierung und der sozialen Frage ergaben.29
<45>
All diese Krisenmomente des neuen Nationalstaats subsummierten sich zu einer beunruhigenden Diagnose: Die nationale Einigung ließ ein strukturelles Gefälle zwischen Norden und Süden auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene deutlich werden, das die soziale Frage im neuen Italien vor allem als eine „Südfrage“ erscheinen ließ, deren (ordnungs-)politische Brisanz jedoch die Legitimität des gesamten Staatsgefüges betraf. Es galt, die unangefochtene einheitsstaatliche Lösung des Nationalproblems mit dem Widerspruch in Einklang zu bringen, der den sozialpolitisch engagierten Zeitgenossen als das größte Defizit des geeinten Italien galt: der Nord-Süd-Gegensatz, der in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht die mit politisch-administrativer Effizienz konstruierte Einheit zu sprengen drohte.
<46>
Die erste Richtung des Meridionalismo entstand als liberal-konservative Initiative: Unter dem Motto „reformieren, um zu bewahren“ verfolgten seine Anhänger das Ziel, den bürgerlichen Staat durch einen umfassenden Konsens seitens der Unterschichten zu stärken. Dieser Sozialreformismus wies in seiner Anfangsphase Berührungspunkte zum industriellen Unternehmerpaternalismus und zur katholischen Sozialbewegung auf und orientierte sich am Vorbild der deutschen „Kathedersozialisten“ sowie an den Sozialreformen in England und im Preußen Bismarcks. Ab den 1870er Jahre traten die Meridionalisten mit zunehmender Vehemenz mit der „Südfrage“ an die Öffentlichkeit, indem sie durch statistische Erhebungen auf die Verhältnisse im Süden aufmerksam machten und soziale Reformprogramme erarbeiteten.30 In (sozial-)politischer Hinsicht führten diese Bemühungen allerdings erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts zu Interventionsschüben, aber auch zu exzessiven Formen von Korruption und Klientelismus im Süden, durch welche der Zentralstaat und seine parteipolitischen Vertreter die zentrifugalen Kräfte lokaler und regionaler Orientierung an sich zu binden suchten.31
<47>
Im Zusammenhang mit der nach der nationalen Einigung andauernden Wahrnehmung eines wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälles machte sich der Unmut über jenen ‚Klotz am Bein‘, als welcher der Süden nunmehr empfunden wurde, zunehmend in einer Art ‚negativen‘ Meridionalismo Luft, der durch den wissenschaftlichen Diskurs der Zeit legitimiert wurde: Die Ursachen der Südfrage wurden besonders unter dem Einfluss der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Soziologie und Anthropologie mit einer angeblichen ethnischen Unvollkommenheit der süditalienischen Bevölkerung identifiziert. Der Soziologe Alfredo Niceforo klärte die gebildete Gesellschaft über das „barbarische Italien“ auf, das er im Süden lokalisierte, und schuf damit einen inneritalienischen Rassismus, der zum Teil noch im heutigen Norditalien gegenüber den Regionen und Bevölkerungen des Südens anzutreffen ist.32
<48>
In der Geschichtsschreibung rief die weiterhin als ungelöst empfundene „Südfrage“ eine intensive Beschäftigung mit dem „Mezzogiorno“ hervor, d. h. einem als weitgehend einheitlich strukturiert verstandenen sozialen und wirtschaftlichen Krisenraum, der das gesamte unteritalienische Festland sowie die beiden Inseln Sardinien und Sizilien umfasste. Der reformerischen Richtung des Meridionalismo (Franchetti, Sonnino, Fortunato und Nitti) stellte sich um die Jahrhundertwende eine revolutionäre Auffassung gegenüber, welche sich an die Thesen Gaetano Salveminis anlehnte und die Ursachen der Südfrage in den politisch-sozialen Machtstrukturen Italiens lokalisierte, die es daher zu beseitigen gelte.33 Die Kritik Salveminis fand während des Faschismus – nicht zuletzt unter dem Eindruck der vorherrschenden offiziellen Heroisierung der Nationalgeschichte34 – große Resonanz im antifaschistischen Umfeld: Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über die Kontinuitäten zwischen Risorgimento, liberalem Einheitsstaat und Faschismus rief Pietro Gobetti zur Demaskierung des liberal-demokratischen Mythos des Risorgimento auf, während Antonio Gramsci (1891-1937) mit der These über die „rivoluzione mancata“ die sozioökonomischen Bedingungen und den Klassen- und Herrschaftsaspekt der Nationalstaatsbildung als Ursache für deren grundlegende Mängel und Versäumnisse benannte.35 Gegen eine solche Entzauberung des Risorgimento verteidigte Benedetto Croce die Erfolge des italienischen Liberalismus, die erst durch den Ersten Weltkrieg und den ihm nachfolgenden Faschismus zerstört worden seien; den Faschismus wollte er demnach nicht als kausale Folge des Risorgimento, sondern als vorübergehende Ausnahmeerscheinung verstanden wissen.36 Etwa zeitgleich zu Gramscis These entwickelte sich 1935 innerhalb der antifaschistischen Bewegung Giustizia e Libertà eine intensive Debatte über das Verhältnis zwischen Antifaschismus und Risorgimento, die durch die von Carlo Rosselli 1932 besorgte Wiederveröffentlichung von Salveminis Thesen ausgelöst wurde. Im Verlauf der Auseinandersetzung setzte sich die gemäßigtere Sichtweise durch, nach der die Ideale und Ziele des antifaschistischen Italien mit der Forderung nach einem ‚Zweiten Risorgimento‘ identifiziert wurden, das die Versäumnisse des ersten nachholen sollte.37
<49>
Die marxistische Kritik am Risorgimento ging auf deutliche Distanz zu dessen gemäßigt-liberalen Gewinnern und erkannte dann im Zusammenbruch des Faschismus die unmittelbar bevorstehende Vergeltung für die Verlierer der nationalen Einigung, nämlich die demokratischen und sozialistischen Kräfte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit mündeten beide Auffassungen des Meridionalismo durch die weitere Auseinandersetzung über die Ursprünge des Faschismus zunächst in eine ideologische Polarisierung der Geschichtsschreibung: In den 1950er Jahren zog gegen die marxistische Richtung der ‚Gramscianer‘ die ‚liberale‘ Geschichtsschreibung ins Feld, die sich um Rosario Romeo sammelte und das nationale Einigungswerk des italienischen Liberalismus gegen die marxistische Kritik verteidigte. Romeo eröffnete 1956 in der Zeitschrift „Nord e Sud“ seine Kampagne mit einer Stellungnahme gegen Gramscis These, in der er die historische Möglichkeit zu einer Agrarrevolution im Italien des Risorgimento prinzipiell in Zweifel zog. In den folgenden Jahrzehnten führte die intensive Auseinandersetzung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit den Ursachen des Nord-Süd-Gegensatzes zu einer Annäherung beider Richtungen. Darüber hinaus entwickelte auch die katholisch orientierte Geschichtsschreibung ihre kritische Sicht auf das Risorgimento, indem sie der Führungsschicht des liberalen Italien eine eklatante Indifferenz gegenüber den religiösen und sozialen Bedürfnissen der Massen bescheinigte.38
<50>
Die zentrale Aussage dieser sich aus der Tradition des Meridionalismo entwickelnden kritischen Revision des Risorgimento beruhte zum einen in Anlehnung an die Modernisierungstheorie auf der Annahme einer generellen sozioökonomischen ‚Rückständigkeit‘ oder ‚Inferiorität‘ des Südens, zum anderen in Anknüpfung an die historische Publizistik und Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts auf der Wahrnehmung einer sozialen und regionalen Integrationskrise:
- <51>
In der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wurde die Inferioritätsthese zunehmend auf die Geschichte Süditaliens selbst bezogen, um damit den Ursprung der ab dem 19. Jahrhundert empfundenen ‚Rückständigkeit‘ bis hin zur normannisch-staufischen Epoche zurück zu projizieren.39 Eine solche Auffassung wurde für das Hochmittelalter bald durch Giuseppe Galasso widerlegt: Der neapolitanische Historiker erkannte zwar in der normannisch-staufischen Epoche jenen historischen Moment, in dem der Differenzierungsprozess zwischen Nord- und Süditalien seinen Ausgangspunkt nahm;40 zugleich verwahrte er sich jedoch gegen eine einfache Projektion der ‚Rückständigkeit‘ des Mezzogiorno, wie sie sich im 19. Jahrhundert abzeichnete, auf das mittelalterliche „Regnum Siciliae“. Denn der hochmittelalterliche Differenzierungsprozess zwischen Norden und Süden habe wesentlich mit übergreifenden wirtschaftlichen Entwicklungsunterschieden (Handelsexpansion des Nordens), komplementären Marktbedingungen (politisch vereinigter Markt im Süden) sowie mit einer sozialstrukturellen Auseinanderentwicklung (Feudalisierung im Süden) zu tun gehabt, die sich einer eindeutigen Bewertung als ‚progressiv‘ oder ‚rückständig‘ entzögen.41
- <52>
Die soziale Integrationsfrage überschattete bereits die Ausgangsereignisse der Risorgimento-Epoche und betraf das problematische Verhältnis zwischen den Trägern der Nationalbewegung und den Unterschichten: Die Vorstellung über einen prinzipiellen Antagonismus zwischen ‚fortschrittlichen‘ Kräften des Bürgertums und liberalen Adels einerseits und den ‚traditionsverhafteten‘, analphabetischen und verarmten Unterschichten vor allem in Süditalien andererseits durchzog wie ein roter Faden alle Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Sie ging auf die politische Diagnose zurück, welche die Memoirenliteratur unmittelbar nach der ‚jakobinischen‘ Erfahrung von 1796-1799 getroffen hatte: Die Kurzlebigkeit und das Scheitern aller italienischen Republiken wurde auf den Umstand zurückgeführt, dass sie die französische Verfassungsentwicklung lediglich unkritisch nachvollzogen hätten, ohne eigenständige Konzepte zu entwickeln, die den jeweiligen italienischen Verhältnissen und vor allem dem Bewusstseinsstand der Unterschichten näher entsprochen und damit die politische Erneuerung auch in sozialer Hinsicht abgesichert hätten. Die These von der „rivoluzione passiva“ erklärte nicht nur die gewaltvollen Exzesse, mit denen die neapolitanischen Unterschichten auf das antiklerikale Programm des republikanischen Experimentes von 1799 reagierten; sie stellte auch in den folgenden Etappen des Risorgimento eine Herausforderung für jede politische Konzeption und Aktion der Nationalbewegung dar. Frühsozialistische und anarchistische Gruppen der Nationalbewegung bemühten sich naturgemäß auf intensivere Weise um eine Einbindung der unterbürgerlichen Schichten in Stadt und Land, doch auch Mazzinis programmatische Antwort auf die Gefahr einer lediglich politisch-diplomatisch dekretierten Einigung („L'Italia farà da se!“) beruhte in hohem Maße auf der zumindest angestrebten Teilhabe der Unterschichten, wenn auch nur der städtischen.42
- <53>
Regionale Identitätsentwürfe wie die Sizilianismus-Ideologie stellten gewissermaßen die Reaktion auf den nationalen Hegemonieanspruch des piemontesierten Italien und die Antwort auf die scheinheilige, weil letztlich herabschauende Umklammerung des Meridionalismo dar. Der Sizilianismus lässt sich zunächst als Herrschaftslegitimation der vornehmlich adeligen sizilianischen Eliten nachweisen, die allerdings in den Auseinandersetzungen des Risorgimento von 1820 über 1848 bis in die 1860er Jahre hinein auch eine starke mobilisierende Ausstrahlung auf die breite städtische und ländliche Bevölkerung geltend machen konnten.43 Auch in dieser Hinsicht kann als Bezugs- und Anknüpfungspunkt die Publizistik und Memoirenliteratur des frühen 19. Jahrhunderts gelten, die angesichts des erstmals 1820 offenbar gewordenen Regionalkonflikts zwischen Sizilien und Neapel neue Nahrung erhielt. Die palermische Unabhängigkeitsbewegung von 1820 konstruierte sich ihre sizilianische Identität nicht nur im Rückgriff auf die bis zu Normannen und Staufern zurückdatierte Tradition eines eigenständigen Königreichs Sizilien, sondern vor allem in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der napoleonischen Zeit. Die sizilianische Verfassungsgebung von 1812 bot den Anlass für eine umfassende historische Legitimation der „sicilianità“, die ab 1820 als nationale Eigenständigkeit der Insel und ihrer Bewohner zunächst dem politischen Hegemonieanspruch Neapels, später dann den zentralstaatlichen Ordnungskonzepten im geeinten Italien bis in die zweite Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts entgegengehalten wurde.44
<54>
Was das Risorgimento-Konzept und seine sozialkritische Revision durch den Meridionalismo gleichermaßen so problematisch macht, ist das zweifache Missverständnis, auf dem beide beruhen: In der italienischen Staatenwelt konnte es vor den entscheidenden Ereignissen von 1859-1861 keine Gewissheit über die einheitsstaatliche Form der Nationalstaatsbildung geben, geschweige denn ein soziales Problem in Gestalt des Nord-Süd-Gegensatzes empfunden, kurz: die „Südfrage“ überhaupt gestellt werden. Dieser Sachverhalt wird in der jüngeren Geschichtsschreibung zunehmend berücksichtigt, welche „den“ Mezzogiorno aus der Umklammerung retrospektiver Wertzuweisungen löst. Die Thesen über ‚Inferiorität‘ sowie sozialem und regionalem Integrationsproblem sind inzwischen einer Perspektive auf das Risorgimento gewichen, welche sich um die Befreiung der historischen Akteure aus dem ihnen auferlegten ideologischen Handlungsdeterminismus, um eine Berücksichtigung der regionalen und einzelstaatlichen Realitäten vor der nationalen Einigung und um die Offenlegung des konstruktivistischen Charakters bemüht, die den Vorstellungen über den Süden selbst zu eigen ist.45
| Literatur- und Forschungsberichte über neue Perspektiven der Risorgimento-Forschung |
2.4 | Anmerkungen | |
- „Grandi atti di eroismo subito traditi, fin dall'inizio immolati dalle logiche del potere. [...] Così oggi noi possiamo sostituire Italia con Austria e Roma con Vienna. Ecco perchè è giunto il momento di troncare ogni compromissione col potere centralista di Roma.“ Umberto Bossi, zit. nach: L'Unità, 73, Nr. 219 (14.9.1996), S. 2. Zurück in den Text
- Das machtpolitisch verflochtene Parteien- und Verwaltungssystem hatte von den „tangenti“, d. h. der durch Wirtschaftsunternehmen im Konkurrenzkampf um öffentliche Aufträge gezahlten Bestechungsgelder gelebt; Bestandteil dieses komplexen Korruptionsgeflechts waren und sind überdies die Interessenverflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und den regionalen Mafien. Beschränkten sich die aufgedeckten Korruptionsaffären zunächst auf den Mailänder Raum, so wurden im weiteren Verlauf der „Mani-pulite“-Initiative auch süditalienische Partei- und Verwaltungsfunktionäre von den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erfasst. Vgl. zu diesen Vorgängen Paul Ginsborg, L'Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980-1996, Torino 1998; Gunther Trautmann / Hartmut Ullrich / Luigi Vittono Graf Ferraris (Hg.), Italien auf dem Weg zur ‚zweiten Republik‘? Die politische Entwicklung Italiens seit 1992, Frankfurt/Main u. a. 1995; Jens Petersen, Quo vadis Italia? Ein Staat in der Krise, München 1995 (bes. S. 141 ff., 148 ff.). Siehe auch die journalistische Bestandsaufnahme von Giampaolo Pansa, Il Regime, Milano 1991. - Für eine kritische Einschätzung der Rolle der Justiz, die in der „Mani-pulite“-Initiative der Mailänder Staatsanwälte und Richter eine (partei-)politische Motivation vermutet oder gar einen Staatsstreich postmoderner Art erkennen will, siehe respektive David Nelken, Il significato di Tangentopoli: la risposta giudiziaria alla corruzione e i suoi limiti, in: Luciano Violante (Hg.), Legge - Diritto - Giustizia (= Einaudi: Storia d'Italia. Annali, 14), Torino 1998, S. 597-627; Stanton H. Burnett / Luca Mantovani, The Italian Guillotine: Operation Clean Hands and the Overthrow of Italy's First Republic, Lanham u. a. 1998.
Es ist wenig verwunderlich, dass einer der Mitautoren, Mantovani, als Pressesprecher von „Forza Italia“ hier dieselbe Position vertritt, die auch von seinem Parteichef und italienischen Premier, Silvio Berlusconi, gegen die italienische Justiz eingenommen wird, um sich somit derselben politischen Parteilichkeit hinzugeben, die er der Gegenseite vorwirft. Hierzu und zu anderen Hintergründen siehe: Rezension von Stanislao Pugliese in H-Italy. Zurück in den Text
- Als Bilanz zu der sezessionistischen Bewegung Umberto Bossis und der von ihm entwickelten mythisch-symbolischen Formen der politischen Repräsentation und Opposition siehe Adriana Destro, A new era and new themes in Italian politics: the case of Padania, in: Journal of Modern Italian Studies, 2 (1997), Nr. 3. Zurück in den Text
- Eine Darstellung der – angeblich gescheiterten – Geschichte der Risorgimento-Ideologie von 1861 bis zum heutigen Italien unternimmt Sergio Romano, Declino e morte dell'ideologia risorgimentale (1994), in: ders., Storia d'Italia dal Risorgimento ai nostri giorni, Milano 1999 (Erstaufl. 1978), S. 378-391. Dabei geht Romano davon aus, dass „‚Ideologia risorgimentale‘ non è sinonimo di Risorgimento.“ Ebd., S. 378. Zurück in den Text
- Das für die belgische Nationalstaatsgründung charakteristische Zusammengehen von gemäßigt-liberalen und klerikalen Kräften veranlasste einen Teil der italienischen Moderati zur Annäherung an den Vatikan. Der Neoguelfismo entwickelte sich jedoch in starker Abhängigkeit zu der zwischen Reform und Repression schwankenden Politik Pius' IX. und verlor nach 1848/49 an Bedeutung, um erst gegen Ende des Jahrhunderts in Gestalt des liberalen Katholizismus eine neue Position im politischen Leben Italiens zu entwickeln. Zurück in den Text
- In der italienischen Parteiengeschichte wird zwischen dem weniger progressiven Moderatismo und dem italienischen Liberalismus unterschieden: Letzterer formierte sich erst ab dem „connubio“, der ab 1852 unter der Führung Cavours in Piemont praktiziert wurde. Rosario Romeo, Il giudizio storico sul Risorgimento, Catania 1966, S. 112 f.; Hartmut Ullrich, Die italienischen Liberalen und die Probleme der Demokratisierung, 1876-1915, in: GG, 4 (1978), S. 49-76, hier: S. 49. Zurück in den Text
- Trient, Triest, Istrien und Dalmatien verblieben jedoch infolge der italienischen Niederlage von 1866 in österreichischer Hand und entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten zum Bezugspunkt des Irredentismus, der als geistig-politische Strömung bis zum Ersten Weltkrieg fortbestand. Zurück in den Text
- Eine treffende Beurteilung des Gegensatzes zwischen „Destra“ und „Sinistra“ findet sich u. a. bei Federico Chabod, Storia della politica estera italiana dal 1870 al 1896, Neuaufl. Bari-Roma 1965, S. 309. Zum Transformismus und dessen Weiterentwicklung durch Giovanni Giolitti: Markus Schacht, Das Experiment Giolitti. Trasformismo und Reformliberalismus in Italien 1901-1915, in: Otto Büsch / Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 309-345. Die den „trasformismo“ ermöglichende Wahlkultur untersucht ders., Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Zur Wahlkultur in Italien um die Jahrhundertwende im Vergleich mit Preußen, in: Martin Kirsch / Anne G. Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 41), Berlin 2002, S. 197-221.
Zurück in den Text
- Die Instabilität der „Destra“ war bereits nach dem frühen Tod Cavours im Juni 1861 offen zu Tage getreten, der als Integrationsfigur für alle regionalen Gruppen der „Partei“ gewirkt hatte. Zur strukturellen Schwäche der „Destra“: Carlo Ghisalberti, Storia costituzionale d'Italia 1849-1948, Roma-Bari 1974, S. 149; Hartmut Ullrich, Die italienischen Liberalen und die Probleme der Demokratisierung, 1876-1915, in: GG, 4 (1978), S. 49-76, hier: S. 52. Zu den vorrangig wirtschaftspolitischen Fragen, die zum Sturz der parlamentarischen „Destra“-Mehrheit führten, siehe u. a. Peter Hertner, Italien 1850-1914, in: Wolfram Fischer (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg (= Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 5), Stuttgart 1985, S. 705-776, hier: S. 763. ff. Zurück in den Text
- Für 1874 ist der Versuch einer solchen Annäherung zwischen Teilen der mazzinianischen und der anarchistischen Bewegung in der Emilia-Romagna dokumentiert: Aldo Berselli, Gli arresti di Villa Ruffo. Contributo alla storia del mazzinianesimo, Milano 1956. Zur radikal-demokratischen Gruppe „Libertà e Giustizia“, die bereits in Neapel von 1866/67 sozialistische Tendenzen vertrat und personelle Verbindungen zur anarchistischen Bewegung aufwies, siehe Michele Biscione, ‚Libertà e Giustizia‘: Il socialismo a Napoli dopo l'unità, in: Trimestre (Pescara), 13 (1980), H. 1, S. 109-132; Alfonso Scirocco, Democrazia e socialismo a Napoli dopo l'unità (1860-1878), Napoli 1978, S. 178-198. Zurück in den Text
- Dennoch lassen die gescheiterten anarchistischen Aufstände von 1874 und 1877 erkennen, dass es dem Anarchismus kaum gelang, die politisch wenig ausgeprägten sozialen Protestformen für seine Ziele zu kanalisieren. Ein wesentliches Moment, das die aufständische Landbevölkerung von den anarchistischen Positionen trennte, war deren ungebrochene Verwurzelung in der religiösen, d. h. katholischen, Tradition: Lilla Lipparini, Andrea Costa, Milano 1952, S. 85; Paola Feri, Movimento operaio e anarchismo in Toscana alla morte di Bakunin, in: Atti del convegno storico internazionale ‚Bakunin - Cent'anni dopo‘, o. O. [Venezia] o. J. [1976], S. 200. Zurück in den Text
- Gabriele de Rosa, I partiti politici in Italia, Bergamo 1973, S. 34 f. Zur Abspaltung der italienischen Anarchisten von der Internationale, die auf der Konferenz von Rimini 1872 vollzogen wurde, siehe die Protokolle dieser Zusammenkunft: Pier Carlo Masini, La Federazione Italiana dell'Associazione Internazionale dei Lavoratori. Atti ufficiali 1871-1880, Milano 1963, S. 30-37. Zurück in den Text
- Die Kriminalisierung der anarchistischen Bewegung ließ auch nach dem Regierungsantritt der „Sinistra“ kaum nach, sondern erfuhr eher noch eine qualitative Verschärfung: Paola Feri, Il movimento anarchico dopo la svolta di Andrea Costa, in: Trimestre (Pescara), 11 (1978), H. 1-3, S. 5. Zurück in den Text
- Die päpstliche Weisung des „non expedit“ untersagte ab 1874 den Katholiken die Beteiligung an den italienischen Parlamentswahlen; bei den Kommunalwahlen beobachtete man dagegen eine massive Teilnahme der katholischen Wählerschaft. Gabriele de Rosa, Storia del movimento cattolico in Italia, Bd. 1, Roma-Bari 1970, S. 98-113. Zurück in den Text
- Man verzichtete auf eine Titeländerung und erklärte Viktor Emanuel II. „von Gottes Gnaden und nach dem Willen der Nation“ zum König von Italien. Zurück in den Text
- Einzig die Lombardei, die nach dem Züricher Vertrag vom 10.11.1859 an Piemont übergegangen war, wurde noch 1859 innerhalb kürzester Zeit an die piemontesischen Strukturen angeglichen. Claudio Schwarzenberg, La formazione del Regno d'Italia: l'unità amministrativa e legislativa, Milano 1975, S. 16 ff. Es sei außerdem daran erinnert, dass die Lombardei die einzige Region darstellte, bei deren Integration in den Nationalstaat man auf eine neuerliche plebiszitäre Bestätigung verzichten zu können glaubte. Zurück in den Text
- Die Verabschiedung des umfangreichen Gesetzespakets, das zur Grundlage der Rechts- und Verwaltungsordnung im künftigen Nationalstaat erhoben werden sollte, vollzog sich 1859 außerhalb jeglicher Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten seitens des Parlaments, da der piemontesischen Regierung in Hinblick auf den Krieg gegen Österreich Sondervollmachten erteilt worden waren, die sie auf gesetzgeberischer Ebene ausschöpfte. Ghisalberti, Storia, S. 91 f. Zurück in den Text
- Die Verschmelzung von Politik und Bürokratie in der Figur des Präfekten begünstigte zweifellos die Entstehung klientelistischer Strukturen. Pierfrancesco Casula, I prefetti nell'ordinamento italiano. Aspetti storici e tipologici, Milano 1972, S. 104 , 272. Zurück in den Text
- Schwarzenberg, Formazione, S. 15; Rosario Romeo, Cavour e il suo tempo, Bd. 3, Roma-Bari 1984, S. 945. Ein entsprechender Gesetzentwurf, den Cavour noch im Januar 1859 in der Kammer angekündigt hatte und der die lokale Selbstverwaltung zum Gegenstand haben sollte, lässt sich nicht mehr dokumentarisch nachweisen. Zurück in den Text
- Darüber hinaus hatte die Konversion der gemäßigten Liberalen zum Zentralismus nicht nur sicherheitspolitische, sondern auch ökonomische Motive zur Grundlage. Francesco Traniello, Centralismo, decentramento, autonomie e gli sviluppi del sistema economico, in: Nicola Raponi (Hg.), Dagli stati preunitari d'antico regime all'unificazione, Bologna 1981, S. 571-599. Zurück in den Text
- Clara M. Lovett, The Democratic Movement in Italy 1830-1876, Cambridge (Mass.) 1982, S. 80-90, verweist auf die bedeutende Rolle der Oberschulen und Universitäten hinsichtlich der politischen Sozialisation und Rekrutierung demokratischer Aktivisten besonders in den 1830er Jahren: Rund 60% der von Lovett herangezogenen Anhänger der demokratischen Bewegung hatten eine Universität besucht, wenn auch nicht immer abgeschlossen; viele - wie etwa Giuseppe Mazzini - kamen gerade während ihrer Studienzeit in Kontakt mit den Geheimgesellschaften. Zurück in den Text
- Die durchschnittliche Analphabetenrate betrug zum Zeitpunkt der politischen Einigung Italiens 70% der Gesamtbevölkerung. Die nördlichen Regionen des späteren „industriellen Dreiecks“ (Torino-Milano-Genova) stellten sich mit der vergleichsweise niedrigen Analphabetenrate von 54% als die fortschrittlicheren Landesteile dar; ihnen standen der sizilianische Analphabetismus von 88,6% und die höchste Analphabetenrate auf Sardinien mit 89,7% gegenüber. SVIMEZ (Associazione per lo sviluppo del Mezzogiorno), Un Secolo di Statistiche Italiane: Nord e Sud 1861-1961, Roma 1961, S. 795. Zum Phänomen des „Halb-Analphabetismus“, der noch weit mehr Bevölkerungsteile von einer echten Beherrschung der Lese- und Schreibfähigkeit ausschloss: Tullio de Mauro, Storia linguistica dell'Italia unita, Bari 1963, S. 35. Zurück in den Text
- Giuseppe Ferrari (1811-1876) und Carlo Pisacane (1818-1857), beide Vertreter des sogenannten „risorgimentalen Sozialismus“, gingen in ihrer sozialen Programmatik weit über das Gedankengut eines Giuseppe Mazzini hinaus, indem sie beispielsweise schon frühzeitig die Einführung einer neuen und gerechteren Agrarordnung im künftigen Nationalstaat vorsahen. Zurück in den Text
- Roberto Martucci, Emergenza e tutela dell'ordine pubblico nell'Italia liberale. Regime eccezionale e leggi per la repressione dei reati di brigantaggio (1861-1865), Bologna 1980. Zurück in den Text
- Volker Sellin, Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart 1971, S. 21-45. Zurück in den Text
- Die Begriffe „paese reale“ und „paese legale“, die als Synonyme für die Entfremdung des politischen Italien vom wirklichen Land, d. h. von seiner Bevölkerung und deren Problemen, zu verstehen sind, gehen ursprünglich auf die klerikal-katholische Propaganda nach der Einigung zurück. Sie wurden in einer kritischen Schrift eines Meridionalisten aufgegriffen und verbreitet: Stefano Jacini, Sulle condizioni della cosa pubblica in Italia dopo il '66. Lettera agli elettori di Terni, Firenze 1870. Zurück in den Text
- Der Begriff des ‚Jakobinismus‘ steht in der italienischen Geschichtsschreibung allgemein für die republikanischen, an Frankreich orientierten Kräfte, die im Anschluss an den Italienfeldzug Bonapartes zwischen 1796 und 1799 überall auf der Halbinsel Republiken auf der Grundlage der Direktorialverfassung von 1795 errichteten. Vgl. Carlo Ghisalberti, Le costituzioni giacobine 1796-1799 (= Istituto di storia del diritto italiano dell'Università di Roma: Ius Nostrum. Studi e testi, 5), Milano 1973, S. 154. - Zur Entwicklung der historiographischen Auseinandersetzung mit der konstitutionellen Erfahrung im italienischen ‚Jakobinismus‘ siehe ebd., S. 1-22 (Introduzione). Zurück in den Text
- Zu den Konstruktionselementen des Risorgimento-Mythos, wie er in den Jahrzehnten nach der nationalen Einigung insbesondere seitens der unterlegenen demokratisch-republikanischen Richtung im Sinne eines risorgimentalen Heldentums und Martyriums entwickelt wurde, vgl. Franco Della Peruta, Il mito del Risorgimento e l'estrema Sinistra (1861-1914), in: Ders., Realtà e mito nell'Italia dell'Ottocento, Milano 1996, S. 79-163. Zurück in den Text
- Volker Sellin, Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien (= Werner Conze: Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 13), Stuttgart 1971. Zurück in den Text
- Pasquale Villari (1826-1917) begründete den frühen liberal-konservativen Meridionalismo nach der traumatischen Kriegsniederlage von Custoza und Lissa mit einer kritischen Thematisierung der Fehler und Schwächen des nationalen Einigungsprozesses: Pasquale Villari, Di qui è la colpa? O sia la pace e la guerra (1866), in: ders., Le lettere meridionali ed altri scritti sulla questione sociale in Italia, Einf. v. Francesco Barbagallo, Napoli 1979 (Erstausgabe 1885), S. 107-139. Zu Villari vgl. auch den Tagungsband: Pasquale Villari. Nella cultura, nella politica e negli studi storici. Atti del Convegno di studi (= Rassegna storica toscana, 1), Firenze 1998. – Gelegentlich wird auch die radikal-demokratisch bis sozialistisch orientierte Gruppe „Libertà e Giustizia“, die um 1867 in Neapel bestand, als eigentliche Begründerin des Meridionalismo bezeichnet: Vgl. Michele Biscione, ‚Libertà e Giustizia‘: Il socialismo a Napoli dopo l'unità, in: Trimestre (Pescara), 13 (1980), H. 1, S. 109-132 (hier: S. 112); Guido Oldrini, L'Ottocento filosofico napoletano nella letteratura dell'ultimo decennio (= Istituto italiano per gli Studi filosofici: Memorie, 15), Napoli 1986, S. 27 Anm. 20. – Zum Diskussionsforum der Meridionalisten entwickelten sich in den Jahren 1878-1882 die in Florenz erscheinenden Zeitschriften „La Rassegna settimanale“ und „Nuova Antologia“. Zurück in den Text
- Durch eine Sondergesetzgebung wurden außerordentliche Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur und zur steuerlichen Begünstigung von Landwirtschaft und Handel subventioniert. Dies betraf bereits 1897 Sardinien, 1904 die Provinzen Basilicata und Neapel, 1905 Kalabrien, 1906 Sizilien und Sardinien sowie den gesamten Süden. Peter Hertner, Italien 1850-1914, in: Wolfram Fischer (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1985, S. 705-776 (hier: S. 771). Siehe auch die Bilanz über die Sonderinterventionen im italienischen Süden nach dem Zweiten Weltkrieg im Tagungsband von Leandra D'Antone (Hg.), Radici storiche ed esperienza dell'intervento straordinario nel Mezzogiorno (Taormina, 18-19 novembre 1994), Napoli 1996. Zurück in den Text
- Alfredo Niceforo, L'Italia barbara contemporanea. Studi sull'Italia del Mezzogiorno, Milano-Palermo 1898; ders., Italiani del Nord e Italiani del Sud, Torino 1901; ders., Forza e ricchezza. Studi sulla vita fisica ed economica delle classi sociali, Torino 1906. Zurück in den Text
- Gaetano Salvemini, Le origini della reazione, 1898. Salvemini vertrat die These, dass es sich beim Risorgimento um eine Art missglückter Revolution gehandelt habe, indem sich ihrer die reaktionären Eliten zur Verhinderung wirklicher politischer und sozialer Umwälzungen bemächtigt hätten. Zurück in den Text
- Für eine Anbindung des Faschismus an das Risorgimento plädierte u. a. Gioacchino Volpe, Italia moderna, 3 Bde., Milano-Firenze 1943-1952. Siehe auch Giovanni Gentile, Vincenzo Cuoco. Studi e appunti, Firenze 1927, der hier den Faschismus insofern als Krönung des Risorgimento betrachtet, als dass er als einziger in der Lage sei, die Volksmassen an den italienischen Nationalstaat zu binden (ebd., S. 24ff.). Zurück in den Text
- Pietro Gobetti, L'eresia del Risorgimento, 1921; Antonio Gramsci, Il Risorgimento (= Quaderni del Carcere), nuova edizione Roma 1991 (Erstausgabe 1949). Die These über eine „versäumte Revolution“, die den politischen Einigungsprozess durch eine umfassende Landreform auch in sozialer Hinsicht hätte absichern sollen, hat Antonio Gramsci bereits in den 1930er Jahren seiner Analyse des Risorgimento zugrundegelegt, die im Hegemonieanspruch Norditaliens eine der wesentlichen Ursachen für den sozio-ökonomischen Niedergang des Südens ausmachte. Sie wurde allerdings erst nach dem Zusammenbruch des Faschismus auf breiter Ebene und dann auch von den Geschichtswissenschaften rezipiert. Vgl. auch John A. Davis (Hg.), Gramsci and Italy's Passive Revolution, London 1979. – Als Beispiel für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen liberaler Nationalbewegung, imperialistischer Expansion und Faschismus siehe auch die Analyse eines der bedeutendsten Vertreters der angelsächsichen Italiengeschichtsschreibung: Denis Mack Smith, Italy. A Modern History, London 1959 (ital.: Storia d'Italia dal 1861 al 1958, 2 Voll., Bari 1961). Die aktualisierte italienische Neuauflage hat wegen ihrer unverhohlenen parteipolitischen Position zugunsten der Regierung Prodi Kritik ausgelöst: ders., Storia d'Italia dal 1861 al 1997, Bari-Roma 1997. Zurück in den Text
- Benedetto Croce, Storia d'Italia dal 1871 al 1915, nuova edizione a cura di Giuseppe Galasso, Milano 1991 (Erstausgabe Bari 1928). Zurück in den Text
- Die grundlegenden Positionen dieser publizistischen Debatte finden sich nachgedruckt in Alberto Castelli (Hg.), L'unità d'Italia - Pro e contro il Risorgimento, Roma 1997; zum Konzept eines ‚zweiten Risorgimento‘ im Übergang vom Faschismus zur Republik, das seine politischen Vorstellungen über die Neuordnung Italiens und seine moralische Legitimation aus der Widerstandsbewegung bezog, siehe den Tagungsband von Claudia Franceschini / Sandro Guerrieri / Giancarlo Monina (Hg.), Le idee costituzionali della Resistenza. Atti del Convegno di studi (Roma, 19-21 ottobre 1995), Einf. v. Stefano Rodotà, Roma 1997. Zurück in den Text
- In der zweiten Generation des reformerischen Meridionalismo führte der neapolitanische Politiker und Croce-Schüler Francesco Compagna (1921-1982) im Forum der von ihm 1954 in Neapel gegründeten Monatszeitschrift „Nord e Sud“ die meridionalistische Debatte unter Beteiligung liberaler Historiker wie Rosario Romeo, aber auch von Giuseppe Galasso fort: Francesco Compagna, Il meridionalismo liberale, hg. v. Giuseppe Ciranna u. Ernesto Mazzetti, Bari-Roma 1988. Romeos Aufsätze gegen Gramscis These erschienen in den Heften August-September 1956 und Juli-August 1958 der Zeitschrift; wiederabgedruckt wurden sie in: Rosario Romeo, Risorgimento e capitalismo, Vorw. zur Neuaufl. v. Guido Pescosolido, Neuaufl. Roma-Bari 1998 (Erstaufl. Bari 1959); ders., L'Italia liberale: sviluppo e contraddizioni, Milano 1987. Für einen Überblick über die Entwicklung der Merdionalismo-Forschung und ihre politisch-ideologische Polarisierung in eine ‚marxistische‘ und ‚liberale‘ Richtung siehe auch Massimo L. Salvadori, Il mito del buongoverno. La questione meridionale da Cavour a Gramsci, 2. Aufl., Torino 1963; Rosario Romeo, Italia democrazia industriale. Dal Risorgimento alla Repubblica, Firenze 1986 (bes. S. V-XX, 19-25); Giuseppe Galasso, Croce, Gramsci e altri storici, 2. Aufl., Milano 1978. Zur jüngeren, durch den ‚Revisionismus‘ des verstorbenen Mussolini-Biographen Renzo de Felice ausgelösten ideologischen Debatte über Faschismus und Widerstand siehe exemplarisch Renzo de Felice, Il fascismo. Le interpretazioni dei contemporanei e degli storici, Vorw. v. G. Sabbatucci, Bari-Roma 1998. Vgl. auch George L. Mosse, Renzo de Felice e il revisionismo storico, in: Nuova Antologia, 133 (1998), Nr. 2206, S. 177-186. Die angesprochene katholische Geschichtsschreibung wurde etwa vertreten von Fausto Fonzi, I cattolici e la società italiana dopo l'Unità, Roma 1953. Zurück in den Text
- Den Ursprung für die vermeintlich unumkehrbare Rückständigkeit des italienischen Südens datiert Croce auf die Sizilianische Vesper (1282) und auf den Tod Roberts von Anjou (1343); Villari meint ihn im gescheiterten Masaniello-Aufstand im Neapel von 1647 zu erkennen; nur Capecelatro und Carlo machen die Politik des italienischen Einheitsstaates ab 1861 dafür verantwortlich; vgl. zu letzteren jedoch das ablehnende Urteil von Oldrini, Ottocento, S. 18 Anm. 8. Benedetto Croce, Storia del Regno di Napoli, Neuaufl. Milano 1992; Rosario Villari, La rivolta antispagnola a Napoli. Le origini (1585-1647), Bari 1967; E. M. Capecelatro / A. Carlo, Contro la ‚questione meridionale‘. Studio sulle origini dello sviluppo capitalistico in Italia, Roma 1972. Zurück in den Text
- Giuseppe Galasso, Potere e istituzioni in Italia dalla caduta dell'Impero romano a oggi, 3. Aufl., Torino 1974, S. 46-61. Zurück in den Text
- Giuseppe Galasso, Le città campane nell'alto medioevo, in: ders., Mezzogiorno medievale e moderno, Torino 1975, S. 63-135 (hier: S. 134); ders., Il Mezzogiorno nella storia d'Italia. Lineamenti di storia meridionale e due momenti di storia regionale, 2. Aufl., Firenze 1984, S. 1 f. u. passim. Galasso folgt hier im wesentlichen Francesco Calasso, La legislazione statutaria dell'Italia meridionale, Roma 1971 (zuerst: Roma 1929), S. 7. Eine ähnliche Sicht vertritt auch Manlio Bellomo, Società e istituzioni in Italia tra Medioevo ed età moderna, 2. Aufl., Catania 1977, S. 111 f. Galasso hat seine Auffassung – insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen von Rosario Villari – erneuert: Giuseppe Galasso, Alla periferia dell'impero. Il Regno di Napoli nel periodo spagnolo, Torino 1994. Zurück in den Text
- Mazzini propagierte gegen die europäisch-diplomatischen Strategien zur Lösung der nationalen Frage, die von den gemäßigt-liberalen Kräften favorisiert und von Cavour vorangetrieben wurden, die zum Missionsgedanken überhöhte italienische Eigeninitiative: „Italia farà da sé!“. Zu den Berührungsängsten Mazzinis gegenüber den ländlichen Unterschichten des Südens und zur Position der Frühsozialisten gegenüber ‚dem Volk‘ siehe exemplarisch: Cesare Vetter, Intellettuali e popolo nel socialismo risorgimentale. Riflessioni sul pensiero di Pisacane, Mazzini e Ferrari, in: Trimestre (Pescara), 12 (1979), H. 1-2, S. 29-59. Zurück in den Text
- Zur Entstehung und Geschichte des Sizilianismus als Herrschaftsideologie der sizilianischen Eliten siehe Giuseppe Carlo Marino, L'ideologia sicilianista. Dall'età dell'Illuminismo al Risorgimento, 2. Aufl., Palermo 1988; Salvatore Butera (Hg.), Regionalismo siciliano e problema del Mezzogiorno (= La questione meridionale dal dopoguerra ad oggi, 14), Milano 1981; Bernard Cook, Sicily and Italian National Unification, in: Justo G. Beramendi / Ramón Máiz / Xosé M. Núnez (Hg.), Nationalism in Europe Past and Present. Actas do Congreso Internacional Os Nacionalismos en Europa Pasado e Presente (Santiago de Compostela, 27-29 de Setembro de 1993) (= Cursos e Congresos da Universidade de Santiago de Compostela, 84), Bd. 1, Santiago de Compostela 1994, S. 651-664. Zurück in den Text
- Die historische Publizistik und Memoirenliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete den sizilianischen Autonomieanspruch mit der verfassungsgeschichtlichen Funktion entweder der Krone oder des ständischen Parlaments. Für die erste Sichtweise siehe Rosario Gregorio, Considerazioni sopra la storia di Sicilia dai tempi normanni sino ai presenti, Palermo 1805 (Ndr. Palermo 1972). Eine traditionelle Vorherrschaft des Parlaments im politischen System Siziliens machten dagegen Paolo Balsamo, der an der Ausarbeitung des sizilianischen Verfassungstextes von 1812 beteiligt, sowie sein Schüler Niccolò Palmeri aus, der Mitglied des konstitutionellen Parlaments von 1813-1815 gewesen war: Paolo Balsamo, Sulla istoria moderna del regno di Sicilia, Palermo 1848 (Ndr. Palermo 1969); Niccolò Palmeri, Saggio storico e politico sulla Costituzione del Regno di Sicilia, Losanna 1847 (Ndr. Palermo 1972). Die Position Palmeris deckt sich mit der des liberal-demokratischen Flügels der palermischen Unabhängigkeitsbewegung, die sich 1820 um Giovanni Aceto sammelte und die dieser im nachfolgenden Exil formulierte: Giovanni Aceto, De la Sicile et de ses rapports avec l'Angleterre à l'epoque de la constitution de 1812, Paris 1827 (ital.: Della Sicilia e dei suoi rapporti con l'Inghilterra all'epoca della Costituzione del 1812, übers. v. V. Caruso, Palermo 1848, Ndr. Palermo 1969). Zurück in den Text
- Vgl. in diesem Sinne bereits Giuseppe Galasso, Il Mezzogiorno nella storia d'Italia. Lineamenti di storia meridionale e due momenti di storia regionale, 2. Aufl., Firenze 1984, S. 274f., der die Herausbildung eines neapolitanischen Nationalgefühls durch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts feststellt und dabei betont, dass sich deren Bewusstwerdung über die süditalienische ‚Rückständigkeit‘ aus dem Vergleich nicht etwa mit dem übrigen Italien, sondern mit Frankreich und Großbritannien ergeben habe. In seiner jüngsten Bilanz zur Südfrage, in der er die Fortexistenz des Problems nachweist und das Anliegen des Meridionalismo auch für die Gegenwart verteidigt, kommt Galasso angesichts der gegenwärtigen Lage des Mezzogiorno aber insgesamt zu einer pessimistischen Einschätzung hinsichtlich des Erfolgs der bisherigen Integrationspolitik: Giuseppe Galasso, Introduzione, in: ders., Il Mezzogiorno da „questione“ a „problema aperto“, Manduria-Bari-Roma 2006, S. 15-37. Zurück in den Text
Werner Daum, Das italienische Risorgimento 1796-1915. Eine Einführung,
in: http://www.risorgimento.info/einfuehrung.htm,
Erstanlage / prima edizione: 15.08.2003, Stand / ultimo aggiornamento: 01.01.2018
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